„Birdy! Kommst
du mal her?“, schreit mein Vater durch das ganze Zelt.
„Ich komme ja schon!“, schreie ich zurück – nicht, dass
es nicht ohnehin schon jeder gewohnt wäre.
Nur wenige Momente später, stehe ich vor Laurent und
staune nicht schlecht, als ich das sehe, was er in der Hand hält. „Wow…“
„Da staunst du, was? Nur für dich, Birdy.”, meint er,
während ich den Gegenstand von allen Seiten beäuge.
„Ja, aber hör auf mich so zu nennen – das ist nicht mehr
cool, seit ich sieben war. Und schon gar nicht, seit es da diese Sängerin
gibt…“
„Ist mir doch egal, wie irgendwelche Menschen sich nennen
und was sie über deinen Namen sagen – für uns wirst du immer die kleine Birdy
bleiben.“, mischt sich Oksana ein, die nun ebenfalls zu uns stößt.
„Und ihr werdet immer meine Eltern bleiben…“, antworte
ich, als ich ihren Gesichtsausdruck sehe.
„Mir fehlt jetzt schon euer Geschrei…und die vielen
Zankereien zwischen dir und den Jungs...“ Sie unterbricht sich selbst, als ihr
die Tränen aus den Augen kullern.
Ich kann nicht mehr tun, als sie in die Arme zu
schließen. „Hey, wenn ich da nicht klar komme, dann habt ihr mich ohnehin
früher wieder am Hals, als ihr es euch wünschen könntet…“ Das sage ich zwar,
kann aber nicht anders als es ihr gleich zu tun; ebenfalls zu weinen.
„Oh Mann, hab ich was verpasst?“, höre ich eine tiefe
Stimme fragen.
„Dimitri…“, ist alles, was ich herausbringe, als ich den
sehe, der die letzten elf Jahre lang, sowas wie mein großer Bruder war. Der
immer auf mich aufgepasst und mich beschützt hat.
Ja, sie sind nicht wirklich meine Familie, aber die
Familie Gauthier war die letzten elf Jahre alles, was ich als Solche bezeichnen
konnte. Sie waren die perfekte Familie.
Doch sie waren nicht einmal meine Adoptiveltern und so
kam vor einem Monat ein Brief von der Jugendfürsorge – ein Teil meiner echten
Familie wurde offenbar aufgetrieben. Ich bin erst sechzehn und die Fürsorge hat
technisch gesehen noch immer die Vollmacht.
Wäre irgendetwas gewesen, dass sie beanstandet hätten,
hätten sie mich sofort wieder hier wegholen können. Und jetzt kam ein Brief.
Dieser Teil meiner Familie, den sie nun gefunden
haben - oder der eher sie gefunden hat – ist offenbar die
verschollene Schwester meiner Mutter. Keiner wusste, wo sie war, da sie
offenbar zweimal geheiratet hat und schon vorher nicht denselben Namen trug,
wie meine Mutter.
Sie wusste nicht, was mit meiner Mutter geschehen war –
hat mich nur ein paar Mal gesehen, als ich noch ganz klein war. Echt, ich
erinnere mich kaum an sie.
Und jetzt kommt sie hier her und sagt, sie würde mich
gerne zu sich nehmen…natürlich ist es verlockend, immerhin ist sie die
Schwester meiner Mutter! Aber…
Nun meldet sich auch Laurent endlich wieder zu Wort. „Wir
wollten dir jedenfalls noch etwas zum Abschied überreichen. Und das ist das von
mir…“ Mit diesen Worten, überreicht er mir endlich das, was er schon die ganze
Zeit in seinen Händen hält.
Es ist ein Gemälde. Ich schätze, er hat es selbst
gemacht.
Es zeigt die Familie. Er, Oksana, Dimitri und mich.
Die gezeichnete Version von meinem Lieblingsbild. Ich
hatte es von einem Passanten schießen lassen, als wir in Paris waren.
Leider hat es nach einer Weile, in der ich es immer bei
mir, oder in der Hand hatte, einige Gebrauchsspuren und einen knick in der
Mitte, der anfing auszufransen.
Wir waren so glücklich an dem Tag…
Wie erbärmlich. Gerade hatte ich aufgehört zu weinen, da
fange ich schon wieder damit an.
Wieso habe ich mich eigentlich überreden lassen? Ich kann
nicht zu dieser Tante gehen.
Ich war noch nie lange unter Fremden – klar, es kamen im
Laufe der Jahre immer wieder neue Artisten dazu, aber ich verbrachte meine Zeit
immer nur in meinem Zimmer, mit der Familie, oder in der Manege.
Oh, habe ich das eigentlich schon erwähnt? Wir sind hier
in einem Zirkus.
Im Cirque de la vérité
– dem Zirkus der Wahrheit.
Und das hier ist eine Zirkusfamilie, die durch die Welt
reist. Am Anfang waren wir immer in Frankreich, daher kann ich französisch. So
wie englisch und russisch.
Oksana, wie man unschwer an ihrem Namen erkennen kann,
ist gebürtige Russin. Sie spricht oft auf Russisch mit mir und Dimitri – für
dessen Namen sie offensichtlich auch verantwortlich ist.
Jedenfalls habe ich hier fast nie mit den anderen zu tun
gehabt – ich habe zwar mal mit ihnen geredet, aber Zirkusartisten sind mit den
Kindern, die hier für gewöhnlich nur zusehen – also den ganz gewöhnlichen
Kindern eben –, einfach nicht zu vergleichen.
Außerdem war ich nur bei ihnen, wenn ich mich um die
Wäsche, oder das Geschirr kümmern wollte, während ich Mutter ausgeholfen habe.
Und ja…es ist irgendwie Paradox. Ich kenne meine Mutter.
Ich kannte
meine Mutter…
Und doch nenne ich Oksana ebenfalls so. Weil sie länger
meine Mutter war?
Nein, ich glaube nicht.
Weil sie mich nicht verlassen hat?
Das ist es auch nicht, denke ich.
Eher, dass sie mich aufgenommen hat.
Dass sie mir einen Ort gegeben hat, an dem ich mich
geborgen fühlen konnte. Weil sie mir das Gefühl gegeben hat, gebraucht und
gewollt zu werden; geliebt zu werden.
Wie es sonst nur eine Mutter kann.
Ich umarme Laurent, meinen Vater, und nehme das Bild
entgegen. „Vielen Dank, Papa…“
Von meiner Mutter bekomme ich dann eine Art Geschenk –
also, etwas das eingepackt war. Zusammen mit den Worten: „Öffne es, wenn du in
deinem neuen Zuhause angekommen bist und denk dabei an mich.“
Das kann nur ein Witz von ihr sein. Ich werde ohnehin
immer an sie denken müssen. „Danke, das werde ich…“, antworte ich jedoch nur
und umarme sie erneut.
Und wenn es nicht ein Vorrecht von Blutsverwandten zu
einfachen Pflegeeltern gäbe, dann hätten sie mich nicht so gedrängt.
Andererseits ist sie die Schwester meiner Mutter. Ich
könnte sie so viel fragen…
Aber dann müsste ich dort auch normal unter Menschen
sein. Nein.
Ich will so schnell wie möglich wieder hier her zurück.
„Hey, Kleine. Bevor ich es vergesse…“, meint nun mein
Bruder und ich schüttle bereits den Kopf, als er ein kleines, schwarzes Etwas
aus seiner Jackentasche zieht.
„Was ist das?“, frage ich. „Ihr müsst mir nicht alle
irgendwas schenken…ich komme sowieso zurück…“
„Nein.“, sagt er überraschend. „Das wirst du nicht. Denn
das ist deine Familie. Wir werden immer eine Familie sein, aber eine Familie im
Geiste. Meinst du nicht, wir haben dich schon lange genug deiner echten Familie
vorenthalten?“ Sein ernster Tonfall und der dazu passende Ausdruck in seinen
stahlgrauen Augen, lassen mich nachdenklich werden.
„Vielleicht hast du Recht…“, gebe ich langsam und recht
leise zu, während ich zu Boden sehe.
„Genau.“, meint er und lächelt nun das erste Mal heute,
als er mir unter das Kinn greift und mein Gesicht wieder anhebt, damit ich ihn
ansehe. „Du wirst dich lediglich einleben müssen. Du warst schließlich noch nie
in deinem Leben in einer Kindertagesstädte, oder einer Schule. Warst immer
Zuhause und wurdest dort von deiner Mutter, oder hier von Oksana unterrichtet.
Du wirst dich unter Menschen eingewöhnen müssen…und wenn du dich deshalb
irgendwann einsam fühlst, dann musst du nur das hier ansehen und an uns
denken.“
Er gibt mir den Gegenstand und dann sehe ich auch
endlich, was es ist. Ich habe es bereits vermutet, aber ich dachte nicht, dass
er mir das wirklich geben würde.
„Aber das kannst du mir doch nicht-“
„Doch, natürlich. Es war von Anfang an deins.“, fällt er mir ins Wort und legt eine Hand um meine, damit sie sich um das lederne Einband, des kleinen Buches schließt.
„Doch, natürlich. Es war von Anfang an deins.“, fällt er mir ins Wort und legt eine Hand um meine, damit sie sich um das lederne Einband, des kleinen Buches schließt.
Das ist das Buch, das er selbst voll geschrieben hat.
Als ich klein war und hier herkam, da war ich
sehr…verschlossen. Ich kam mit anderen nicht zu Recht, weil ich nie unter
anderen Menschen, als meiner Mutter war.
Nur selten zusammen mit anderen. Ich war wirklich nie auf
einer Schule, oder auch nur bei einem Babysitter. Habe nur selten meinen Vater
gesehen und das auch nur, bis ich etwa fünf war.
Als ich dann hier war, konnte ich nachts oft nicht
schlafen.
Dann kam er. Er hat sich Geschichten für mich ausgedacht.
Wie eine, mit einem Mädchen und einer Maus…
Das hat er damals so lange gemacht, jede Nacht eine
andere Geschichte, bis ich keine Probleme mehr mit dem Einschlafen hatte.
Er hat all die Geschichten in diesem Buch nieder geschrieben.
Es bringt so viele Erinnerungen zurück.
Was ich alles zurücklassen werde.
Was ich alles hier gelernt habe.
Hier habe ich sogar den letzten Wunsch meiner eigentlichen
Mutter erfüllt.
Ich habe gelernt,
zu fliegen.
*Oksana: Wird “Aksana“ ausgesprochen.
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