Adrian King
„Oh, hallo Schätzchen! Ich habe dich ja schon so lange nicht mehr gesehen!“
Sie überfällt mich sofort mit einem Klammergriff und redet zu meinem Leidwesen direkt neben meinem Ohr weiter. „Du hast dich ganz schön verändert…vor allem gewachsen bist du. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, musste ich mich zu dir runter bücken – jetzt bist du größter als ich!“
Oh je, die Angewohnheit zu schreien scheint in der Familie zu liegen.
Aber eigentlich finde ich es okay sie zu sehen. Agatha war immer nett zu mir.
Auch wenn sie leider irgendwie ein bisschen verrückt ist.
„Ich bin ja so froh, dass du endlich hier bist – ich war so ungeduldig, dass ich sofort alles geregelt habe, als ich erfahren habe, dass du zu mir kommst. Das alte Haus ist so groß - und jetzt, wo dein Onkel nicht mehr da ist, war es wirklich einsam... Ich habe schon vor Jahren den oberen Stock für dich eingerichtet, aber dann bist du nie zu mir gekommen...
Ich wusste die meiste Zeit nicht einmal, in welchem Land ihr euch gerade aufhaltet – deine Mutter hatte ja schon immer die Angewohnheit oft herumzuziehen, fast wie ein Nomade… Ach, aber du willst jetzt sicher erstmal nach Hause und etwas essen – du musst hungrig sein, immerhin bist du schon seit heute Morgen unterwegs und Gott weiß, das Essen in Zügen und an Bahnhöfen ist ungenießbar“, redet sie immer weiter und weiter auf mich ein, bis sie mich am Arm packt und einfach hinter sich her, aus dem Bahnhof heraus zieht.
Naja, ich bin jedenfalls froh, dass ich endlich irgendwo angekommen bin…
Erst eine halbe Stunde später und ungefähr ein Ohr weniger, stehen wir endlich vor dem Haus. Ich kenne es eigentlich nur von alten Bildern.
Bilder, die mir Agatha als Kind gezeigt hat.
In diesem Haus haben die Eltern meiner Mutter und Agatha gewohnt. Ich habe sie nie kennen gelernt.
Das Haus wurde mehr oder weniger an alle Verbliebenen gleichermaßen vererbt, aber meine Mutter wollte nie einen festen Wohnsitz.
Sie hielt offenbar ohnehin nie viel von einem strukturierten Leben.
Und diese Eigenschaft scheint sie an mich vererbt zu haben.
Ich bin ebenso unfähig, mich an Regeln zu halten.
Auf Leute zu hören. Normal zu sein.
Aber das ist eigentlich egal.
Mein Leben hatte nie viel Sinn und das wird sich nicht ändern – damit habe ich mich schon abgefunden als ich noch ein Kind war.
Ich werde einfach so weiter machen wie jetzt, bis ich irgendwann sterbe…oder jemand nachhilft.
Wir gehen durch die alte Haustür aus Massivholz und betreten den Flur.
Es ist groß.
„Also, wenn du dort die Treppe rauf gehst, dann kommst du in einen abgetrennten Bereich – eine eigene kleine Wohnung, die mit der hier verbunden ist. Aber ich kann dir den Schlüsselbund dafür geben. Ich vertraue dir. Die Tür hinten ist nicht die einzige, aber sie hat dasselbe Schloss wie die eigentliche Wohnungstür – du findest sie, wenn du am Eingang um die Ecke des Hauses gehst. Da ist eine Außentreppe. Du kannst dich dann selbst oben umsehen. Hier unten ist Jedenfalls zu deiner Linken…“ Sie dreht sich zu mir um, da sie bereits im Gang steht, ich aber weiterhin im Türrahmen verharre. Dann zeigt sie plötzlich auf die Tür neben mir. „…ist die Küche. Eine Tür weiter befindet sich das Esszimmer – es gibt übrigens eine Verbindungstür, vom Esszimmer in die Küche. Zu deiner Rechten ist eine kleine Kammer – für Schuhe, Jacken, Mützen, Schirme und so weiter. Eine Tür weiter auf dieser Seite ist das Badezimmer für Gäste.“
Okay…das ist wirklich ein großes Haus.
Sie wendet ihren Blick wieder von mir ab und sieht den kurzen Flur entlang, der sich vor ihr Erstreckt. „Dann bricht der Gang, direkt hinter der Treppe die zu deinem neuen Domizil führt. Die Tür am Ende des Ganges, die man von hier aus noch neben der Treppe sehen kann, direkt als nächstes nach dem Esszimmer, ist das Wohnzimmer. Der Gang, der hinter der Treppe nach oben weitergeht, hat noch weitere Zimmer – einen kleinen Hobbyraum, beziehungsweise ein Gästezimmer, mein Schlafzimmer, ein großes Bad und eine kleine Besenkammer. Außerdem ist unter der Treppe, was du von hier aus natürlich nicht sehen kannst, genau auf der Rückseite eine Tür, die eine weitere kleine Treppe verbirgt, die aber parallel zur vorderen Treppe, nach unten führt. Da ist dann der Keller…hast du das alles?“
Sie wirkt ganz begeistert, dass sie mir das alles erklären durfte.
Ich nicke nur alles ab.
Ich kann mir das zwar niemals alles sofort merken, auch wenn ich es wirklich versuche – sie spricht einfach so schnell, dass ich kaum mitkomme – aber ich will nicht riskieren, dass sie das alles wiederholt.
Also tue ich eben einfach so. Wie bei allem anderen auch.
Ich will sie ja nicht unbedingt unglücklich machen.
Und dann, wie aus dem Nichts, fängt sie schon wieder an zu quatschen. „Und jetzt…können wir ja essen! Ich habe bereits einen Eintopf aufgesetzt, der sollte jetzt fertig sein. Du kannst ja ruhig erst dein Gepäck nach oben bringen – ist das eigentlich wirklich alles? – und dann treffen wir uns im Esszimmer. Ich richte schon mal alles an und dann…“ Auf einmal scheint sie sich selbst zu unterbrechen und legt eine Hand auf ihren Mund, als wäre sie erschrocken. „Oh! Ich habe ja ganz vergessen dir deine Schlüssel zu geben – wie willst du sonst oben hinein kommen? Dabei habe ich eben noch davon gesprochen…“
Sie huscht sofort durch den Raum.
An der Seite steht eine Kommode und sie scheint sich wirklich durch jede einzelne Schublade zu graben, ehe sie einen kleinen metallenen Ring bergen kann, an dem einige Schlüssel rasseln.
Alles klar. Wenn ich Schlüssel habe, kann ich auch meine Ruhe haben.
Ich nehme das Bündel erleichtert entgegen und bereite mich schon darauf vor, mich den restlichen Abend in meinem neuen Zimmer einzuschließen.
„Ach ja, ich habe noch eine Überraschung für dich. Geh du schnell hoch und leg dein Zeug ab, dann hole ich dein Geschenk – du bist doch vor kurzem achtzehn geworden, nicht wahr? Das müssen wir feiern!“
Sie wirkt so gut gelaunt.
Es wäre nicht fair, wenn ich sie dann einfach abserviere.
Ich seufze und sehe sie dann an. „Ist nichts Besonderes – du hättest dir die Mühe nicht machen müssen. Es ist ein Tag wie jeder andere.“
Aber sie fällt mir beinahe schon ins Wort. „WAS?! Niemals! Ein junger Mann wie du sollte seinen Geburtstag noch zu schätzen wissen – ehe du dich versiehst gehst du auf die Dreißig zu und dann wünschst du dir, du wirst nochmal achtzehn!“
Das bringt mich allerdings doch ein wenig zum Grinsen. Eigentlich eine Seltenheit. „Okay, Tante Agatha. Ich bring schnell mein Zeug weg.“
„Dann ist ja alles klar – und nenn mich nicht immer ‚Tante‘, das klingt so alt.“
„Klar…“, meine ich und lache kurz auf, dann bin ich auch schon auf der Treppe.
Ich öffne die Tür mit dem Schlüssel und bin tatsächlich überrascht, als ich das obere Stockwerk sehe.
Von außen sieht es aus, als wäre es klein, aber der Raum den man direkt betritt – eine Art Wohnzimmer – ist schon recht groß. Es ist ein Attika Geschoss und hat sogar eine kleine Terrasse.
Eigentlich ist es ganz süß.
Und wenn es nicht so unglaublich perfekt wäre, dann würde mir vielleicht nicht so sehr ins Auge stechen, wie fehl am Platz ich hier bin. Wie sehr ich hier nicht rein passe.
Kann ich das wirklich schaffen?
Meiner Tante keinen Ärger machen?
Kann ich mich wirklich anpassen?
Ich habe einfach dieses Drückende Gefühl, dass ich hier nicht hergehöre.
Alles was ich auf meiner her fahrt von der Stadt gesehen habe, war perfekt.
Perfekte kleine Reihenhäuser in der Vorstadt.
Perfekte kleine Familien in den Terrassen-Stühlen eines Cafés.
Perfekte Familienhäuser mit perfekten kleinen Vorgärten, samt Hund, rund um mein neues „Zuhause“.
Ich passe hier nicht rein, das ist ein Fakt.
Ich werde einfach so tun.
Werde einfach so tun, als würde es mir hier gefallen.
Als würde ich hier rein passen. Mich hier tatsächlich wohl fühlen.
Als würde ich hier hereinpassen – denn bei einem bin ich mir sicher:
Lange bleibe ich ohnehin nicht. Denn irgendwann, wird meine wahre Natur die Leute hier wahrscheinlich abschrecken…
Als ich wieder zurück in der unteren Etage bin, rieche ich bereits den Eintopf, von dem Agatha gesprochen hat.
Ich kann mich noch daran erinnern.
Sie hat ihn oft gemacht, wenn ich als Kind bei ihr war – es war mein Leibgericht.
Warum? Weil meine Mutter niemals für mich gekocht hat.
Ich hatte also keine wirkliche Auswahl.
Aber es schmeckt gut und erinnert mich an eine Zeit, in der ich die Welt noch durch die rosarote-Brille der Naivität gesehen habe, die nur Kinder besitzen.
Ich habe meine Mutter geliebt und habe alles hingenommen, was sie getan hat.
Habe immer alles entschuldigt, wenn ich auf Ungereimtheiten in meinen Akten, oder in meinen Familienverhältnissen angesprochen wurde.
Weil ich nicht verstoßen werden wollte.
Weil mir erzählt wurde, dass ich dann in ein Heim käme.
In ein Haus, mit Kindern die mich furchtbar behandeln würden.
Und das ich niemanden aus meiner Familie, je wieder sehen würde.
Damals habe ich das geglaubt, weil ich eben ein dummes Kind war.
Damals hatte ich Angst davor.
Damals habe ich auch geglaubt, dass mein Vater irgendwann einfach vor unserer Tür stehen würde.
Ich war eben dumm und naiv.
Aber…das ist jetzt vorbei.
Ich reiße mich selbst aus meinen Gedanken und betrete die Küche durch die Tür, die mir vorhin gezeigt wurde.
Ich sehe Agatha, wie sie gerade vor einem viel zu großen Topf steht, in dem sich offenbar das Essen befindet und muss wieder lachen.
Sie hat schon früher immer viel zu viel gemacht – das meiste konnte auf Grund der großen Menge, nicht einmal eingefroren werden und hat auch nicht einfach in den Kühlschrank gepasst.
Sie hat mit einem Abendessen die ganze Nachbarschaft durchfüttern können.
Damals hat sie aber noch in einer normalen, leider sehr kleinen, Wohnung gelebt, nicht in dieser Gegend.
Allerdings ist sie hier aufgewachsen.
Sie brauchte sich zuvor also nicht einzugewöhnen, oder anzupassen.
Naja, man kann nichts daran ändern.
Sie dreht sich zu mir um. „Teller stehen schon auf dem Tisch.“ Dann verstummt sie plötzlich und sieht nachdenklich zu dem Topf vor sich, während sie einen Finger an ihr Kinn legt. „Ich muss gerade noch überlegen, was ich mit den Resten anstelle… Glaubst du, die Nachbarn haben schon gegessen?“
Oh, Junge. Beinahe hätte ich gelacht.
Ich hab’s gewusst.
Einfach um der weiteren Trauershow mit dem Essen aus dem Weg zu gehen, setzte ich mich einen Raum weiter an den Tisch und warte darauf, dass sie nachkommt.
„Ich habe mir gedacht, da du ja Geburtstag hattest, besorge ich dir ein hübsches Geschenk. Immerhin habe ich deine letzten Geburtstage immer verpasst, da deine Mutter immer herum gezogen ist und ich nie wusste, wie ich euch erreichen soll. Meistens hattet ihr ja nicht einmal ein Telefon – sie hat mich nur manchmal mit einem Münztelefon angerufen, wenn sie gerade in der Nähe war. Jedenfalls…“ Sie holt ein Paket mit einer Schleife daran unter dem Tisch hervor – es ist flach und lag wahrscheinlich auf dem Stuhl neben ihr. „…ist das hier dein Geschenk. Ich weiß noch, dass du so etwas gerne mochtest, als du noch kleiner warst und du hast ja keinen, glaube ich – du kannst ihn auch für die Schule gebrauchen.“
Ich sehe natürlich bereits was es ist, da kein Geschenkpapier darum gewickelt wurde.
Es ist ein neuer Labtop.
Ich hatte auch mal einen – aber das ist lange her und er war schon fast kaputt als ich ihn bekommen hatte.
Der hier scheint gut zu sein, aber ich glaube nicht, dass ich ihn verdient habe.
„Ist schon gut. So etwas…ich brauche kein Geschenk“, sage ich und halte abwehrend eine Hand hoch.
„Jetzt fang nicht schon wieder damit an! Und außerdem – was will ich denn damit? Ich kann doch gar nicht mit Computern umgehen! Jetzt nimm ihn schon an.“
Wirkt irgendwie ein wenig, als könnte ich nicht ablehnen.
Ich nehme ihn also doch entgegen. „Okay…danke, Ta- Agatha. Vielen Dank…für alles…“
Es ist eigentlich nicht meine Art, mich zu bedanken – das würden zumindest die meisten denken.
Aber es stimmt eigentlich nicht.
Ich habe auch Manieren. Ich hatte nur nie einen Grund mich zu bedanken. Jedenfalls nicht sonderlich oft.
Dann holt mich Agatha wieder aus meinen Gedanken. „Nenn mich doch einfach Aggie – du hast mich auch so genannt, als du noch ein kleiner Junge warst! Und apropos Schule – morgen ist Dienstag, daher wirst du morgen zur Schule gehen müssen. Ich habe dich auf der Schule angemeldet, auf der auch deine Mutter und ich schon waren. Sie ist hier ganz in der Nähe und hat einen sehr guten Ruf. Die Frau Direktorin will morgen früh auch mit dir sprechen – ich dachte, ich warne dich mal besser vor.“
Sofort ist das bisschen gute Laune, dass ich bis eben noch hatte, schon wieder verschwunden.
Wie von einem schwarzen Loch verschluckt.
Und ich fühle mich müde, als ich mich kurz an meine alte Schulzeit in England und all die anderen Schulen in der Vergangenheit erinnere.
Ich kann mir schon denken, worüber sie mit mir sprechen will.
Aber es ist mir egal.
Ich werde ohnehin nicht lange bleiben.
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