Adrian King
Die Leute um mich herum sitzen da. Starren vor sich hin.
Hin und wieder wackelt der Zug.
Und diese langweilige Fahrt, scheint einfach kein Ende nehmen zu wollen.
Ich denke, ich bewege mich. Ich steige um, komme meinem Ziel näher.
Aber ich komme nicht weiter.
Wieder ein Halt.
Wieder aussteigen.
Wieder ein neuer Zug.
Wieder viele neue Leute.
Und wieder nur gelangweilte Gesichter.
Ich ziehe meine Jacke straff; klemme das untere Stück zwischen meine Schenkel.
Dann nehme ich einen Stift in die Hand und mache eine Blase, mit dem Kaugummi den ich seit vorhin im Mund habe.
Ich fange an.
Ziehe den Reißverschluss an meiner Jacke nach unten. Ratsch.
Wieder nach oben. Ratsch.
Lasse meine Kaugummiblase platzen. Plopp.
Schlage zweimal mit dem Stift auf die Plastiklehne des Sitzes. Klick. Klick.
Ich mache immer so weiter. Und immer so weiter.
Zu der Musik, die nur ich allein hören kann. Achte nicht weiter auf meine Umgebung.
Versinke in meiner eigenen Welt. Der Welt, in der mich niemand erreichen und niemand verletzen kann.
Der einzige Ort, an dem ich mich auch als Kinder sicher fühlen konnte.
Ratsch. Plopp. Ratsch. Ratsch. Klick. Plopp.
Und immer so weiter. Immer im Takt. Immer zu einem Beat.
Meinem persönlichen Flow.
Ich mache weiter und weiter…bis plötzlich jemand an meinem Arm rüttelt. „Würden Sie bitte damit aufhören?“ Es ist der Mann, der neben mir sitzt.
Er ist schon ziemlich betagt. Grauhaarig. Faltig. Trägt eine Brille und einen Anzug in Khaki.
Sein Gesichtsausdruck zeigt außerdem seinen momentanen Ärger.
Ich sehe mich wieder um – das halbe Abteil starrt mich an.
Einige wütend, andere genervt – und wieder andere, beachten mich eben einfach gar nicht.
Nur ein Kind – ein kleiner Junge. Der nicht.
Er sieht mich mit großen Augen, von dem Sitz vor mir an, über dessen Lehne er sich extra gebeugt hat, um sich zu mir drehen zu können.
„Hey Kleiner…“, sage ich nur. Der Zwerg fängt an zu glucksen und will scheinbar etwas sagen, wird jedoch von seiner Mutter zurück in den Sitz gezogen. Ich höre nur „Kevin! Lass das – ignorier ihn einfach“, ehe ich die Welt wieder auf stumm schalte.
Ich ziehe meine Kopfhörer aus der Tasche, die zu dem billigen MP3-Player gehören, auf den ich vor einer Weile so lange gespart hatte.
Musik mag ich. Sie ist ehrlich.
Man kann sie fühlen.
Sie ist nahezu das einzige auf der Welt, das von Menschen kommt und mir nicht auf die Nerven geht.
Kaum habe ich die Kopfhörer befestigt, dröhnt mir auch schon Thriller, von Michael Jackson in die Ohren.
Eine seltsame Musikauswahl, nicht wahr? Aber seine Songs haben einen guten Rhythmus.
Er hatte viel Talent.
Es ist beruhigend für mich, solche Songs zu hören.
Ich schalte die Welt um mich herum ab. Mache klar, dass ich kein Teil mehr von ihr bin.
Meine Gedanken schweifen ab.
Zurück zu der leidigen Szene von heute Morgen…
„Ich habe deine Tante Agatha angerufen. Sie holt dich am Bahnhof ab…regelt auch das mit der Schule und so.“ Sie ist nicht mehr so wie gestern.
Aber man würde nie merken, dass sich hier eine Mutter von ihrem siebzehnjährigen Sohn verabschiedet.
Dazu ist dieses Gespräch viel zu kühl. Viel zu sachlich.
„Geht das überhaupt einfach so? Dass sie mein Sorgerecht übernehmen darf?“
„Hat sie eh schon lang… Meine Schwester hat praktisch schon dein Sorgerecht, seit ich das letzte Mal im Krankenhaus war.“
Das war eh klar.
„Tja, dann geh ich wohl.“
„Ja. Und benimm dich gefälligst.“
Als würde ich mir das von ihr sagen lassen. „Ich verspreche nichts.“
Danach bin ich eingestiegen. Ohne mich nur noch einmal umzusehen.
Mit der einfachen Reisetasche in der fast alles war, das ich besitze.
Eine einzelne Kiste, habe ich heute Morgen noch zur Post gebracht.
Sie wird dann irgendwann schon bei mir ankommen.
Normalerweise wäre das ja einer dieser Momente.
Einer diese Momente, in denen man Luft holt und sich auf etwas Neues einstellt.
In denen man sich klar macht, wie viel sich nun ändern wird.
Bei denen man wehmütig in die Ferne sieht und an die vergangenen Zeiten denkt.
Während man denkt, dass nun alles besser wird.
Der Schritt, in ein neues Leben getan ist.
Aber das ist nicht so.
Nicht diesmal.
Nicht bei mir.
Denn das hier…
Das alles hier.
Das ist kein Schritt in ein neues Leben.
Es ist kein Neuanfang.
Es ist lediglich ein neuer Ort.
An dem alles so laufen wird, wie zuvor.
Nur ein neuer Ort, an dem alles schief gehen wird.
Ein neuer Ort, mit neuen Menschen, die mich mit ihrer Ignoranz nerven.
Die mich mit ihrer Ansicht der Dinge aufregen.
Die mich wütend machen.
Ein neuer Ort, an dem eine neue Schule sein wird.
Eine neue Schule, die wieder nur irgendein Problemkind in mir sehen wird.
Und wieder, wird es mir egal sein.
Ein neuer Ort, mit einem neuen Zuhause.
In dem ich mich nie wirklich zu Hause fühlen werde.
Nur ein neuer Ort, aber kein neues Leben…
Und vor allem kein neues Ich.
0 Reviews:
Kommentar veröffentlichen