Adrian King
Nach dem Essen, bin ich einfach auf mein Zimmer gegangen.
Schon ein paar Blicke haben gereicht um mir klar zu machen, wie es in meinem neuen ‘Zuhause’ aussieht.
Es ist hübsch.
Wie ich es mir gedacht habe.
Perfekt.
Nichts für jemanden wie mich. Ich bin so etwas nicht wert.
Das Bett ist gemacht; Ich lasse mich einfach auf die Überdecke fallen.
Die Decke ist kahl.
So wie sie es sein sollte.
Aber ich sehe viel mehr in ihr, als ich es sollte.
Mit mir stimmt irgendetwas nicht.
Es ist so ruhig hier. Es ist friedlich.
Aber warum habe ich dann das Gefühl, dass es lediglich die Ruhe vor dem Sturm ist?
Wieso, kann ich mich nicht entspannen?
Wieso fühle ich mich immer noch so, als hätte ich keine Sicherheit?
Sicherheit, die hier doch eigentlich gewährleistet ist.
Und meine Tante ist auch nicht meine Mutter. Sie ist nicht so ehrlos und ohne Pflichtbewusstsein.
Sie will mir nur helfen.
Ich weiß.
Aber ich bin es nicht wert, dass man mir hilft.
Ich bin die Mühe nicht wert…
Ein nerviges Klopfen, lässt mich die müden Augenlider aufschlagen.
Offenbar bin ich gestern Abend einfach hier eingeschlafen…aber es war doch noch gar nicht spät, oder?
Wie lange habe ich wohl einfach so, stumm auf dem Bett gelegen…?
Wieder klopft es – und diesmal registriere ich auch den Ursprung.
Es kommt von unten.
Und dann höre ich auch schon die Stimme meiner Tante. „Adrian? Komm runter – das Frühstück ist fertig und du willst doch nicht an deinem ersten Tag zu spät zur Schule kommen, oder?“
Wow, selbst ein Weckruf von ihr ist so langatmig. Daran werde ich mich wohl vorerst gewöhnen müssen.
Aber wer weiß – vielleicht bin ich auch gar nicht lange genug hier.
Ich hieve mich von der Matratze hoch und schwinge die Beine über die Bettkante.
„Mal sehen…“, murmle ich zu mir selbst, als ich aufstehe und nach meiner Tasche von gestern greife. „Irgendwo müssen ja ordentliche Sachen zu finden sein…“
In der Tasche sind meine Klamotten und mein zusammengedrückter Schulrucksack verstaut – in dem Rucksack sollten auch ein Block, ein Schulmäppchen und ein Notizheft zu finden sein.
Nur drei Minuten später, bin ich auch schon fertig angezogen – ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mir die Dusche heute wohl sparen kann.
Aggie hat mir gestern noch davon erzählt, wann die Schule hier los geht und solche Dinge.
Nicht, dass es mich wirklich interessiert hätte, aber ich will sie auch nicht sofort enttäuschen, wenn der Aufwand dafür so gering ist.
Tanta Agatha kann schließlich nichts dafür, dass ich so geworden bin.
Dass ich so nutzlos bin.
Keine guten Noten. Keine wirklichen Freunde.
Keine liebende Familie. Kein festes Zuhause.
Keine besonderen Talente. Vorstrafen.
Eine Schulakte so lang wie der Weg zum Mond.
Keine Zukunft…
Egal wo ich hingehe, es fühlt sich an, als würde ich mich nicht vom Fleck bewegen; in der Luft hängen.
Kein Halt.
Egal was ich tue, es kommt mir so vor, als würde ich mich nie ändern; nie vorankommen.
Keine Hilfe.
Die Leute reden immer nur. Sie reden und reden, aber wissen doch nicht, wovon sie eigentlich sprechen.
Es nervt.
Ich schnappe mir die Schultasche, die ich zuvor achtlos auf das Bett geworfen hatte und mache mich auf den Weg ins Esszimmer.
„Guten Morgen!“, grüßt mich Agatha – und auch noch ziemlich enthusiastisch.
Es ist eine Weile her, dass das jemand zu mir gesagt hat, wenn ich ehrlich bin. „Äh, ja…guten Morgen.“
„Was willst du frühstücken?“ Sie tritt zur Seite und stellt ein Tablett von einem Stuhl auf den Tisch. „Wir haben Toast, Eier, Speck, Würstchen, Müsli, Kaffee, Kakao, Orangensaft, Brötchen, Marmelade…“, rattert sie eine ganze Liste herunter.
Und wenn ich sie nicht unterbrechen würde, würde sie noch bis morgen Früh weiter aufzählen. „Ich nehm einen Kaffee…schwarz. Danke.“
Das scheint sie irgendwie zu überraschen und sie wirkt auch ein wenig, als würde sie gleich anfangen zu schmollen. „Aber wir haben doch so viel da…soll ich dir nicht wenigstens ein Sandwich für die Schule machen?“
Beinahe wäre ich wirklich geschockt gewesen – aber ich habe schon zu viel gesehen.
Aber sie fängt wirklich an zu schmollen.
Ich meine, wie alt ist diese Frau? Fünf?
Ich seufze. „Also gut…ich nehme ein Sandwich mit. Zufrieden?“
„Allerdings.“ Sie strahlt über meine Antwort und macht sich sofort in die Küche, während ich mir die Kanne Kaffee nehme und mir eine Tasse davon eingieße.
Hoffentlich werde ich davon etwas wacher – ich fühle mich ein wenig müde. Ausgelaugt.
Aber vielleicht liegt das auch an der ganzen Situation.
Ich sollte mich ja eigentlich glücklich schätzen, dass ich hier sein kann.
Ich hoffe, dass das auch irgendwann so kommen wird…
Etwa zehn Minuten und eine Tasse schwarzen, starken Kaffee später, bin ich auch schon auf dem Weg zur Schule.
Wie ich es Agatha versprochen hatte, zusammen mit dem Sandwich.
Ich frage mich, warum mich diese Frau immerzu füttern möchte, wenn sie mich sieht – so dünn bin ich doch gar nicht…
Oder ist das normal so? Ich habe echt keine Ahnung…
Der Weg dauert jedenfalls tatsächlich nicht lang. Nur wenige Minuten später, stehe ich schon vor dem Tor der ‘Sweet Amoris High’ – ein ziemlich…seltsamer Name, wenn ihr mich fragt.
Aber sowas ist wohl persönlicher Geschmack…
Nur ein paar Schritte über den Hof und schon sehen mich einige Leute an.
Eine Frau kommt mir auf der Straße entgegen, mit einem kleinen Jungen an der Hand.
Als ich sie ansehe zieht sie den Jungen ruckartig ein Stück näher zu sich und legt einen Zahn zu.
Warum glaubt nur immer jeder, ich sei eine Art Schwerverbrecher?
Zumindest verhalten sie sich so.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich noch fünfzehn Minuten habe, bis der Unterricht beginnt – aber Direktorin, Ellen Gates – sie scheint auch aus England zu stammen –, möchte ja noch mit mir sprechen.
Und ich kann mir schon denken, über was – meine Schulakte.
Ein leidiges Thema.
Ich schreite durch den Gang, nachdem ich das Gebäude betrete. Sehe zu Boden.
Ich bemerke einige andere Schüler und Schülerinnen, aber ich sehe ihre Gesichter nicht – nicht einmal, wenn ich sie eigentlich sehe sollte.
Ich sehe sie aus einfach nicht.
Nur leere Gesichter. So ist es meist einfacher.
Ich werde sie, wohl oder übel, später ohnehin noch kennen lernen müssen.
Mein Weg führt mich weiter den Gang entlang – eigentlich nicht weit vom Eingang entfernt, treffe ich dann auf eine Tür.
„Schülervertretung…“, lese ich laut – wobei ‘laut’ eher relativ ist. Es sollte keiner außer mir gehört haben.
Neben der Schülervertretung ist das Rektorat. Ich denke, hier muss ich rein.
Ich klopfe an der Tür und warte.
Nichts.
Ich klopfe wieder. Dann höre ich ein Rascheln.
Und dann eine Stimme. „Herein.“
Also gut.
Schon als ich die Tür öffne, fällt mir der starke Parfumgeruch auf, der schwer in der Luft im Raum zu hängen scheint.
„Guten Morgen…ich bin der neue Schüler. Sie sind wohl Ms. Gates, oder? Sie wollten mit mir sprechen, denke ich“, grüße ich sie sofort und komme zum Punkt, um ein bisschen Zeit zu sparen.
Dieser penetrante Blumenduft ist mir irgendwie zuwider. Ich kann nicht sagen wieso.
Sie steht auf und kramt unter einigen Unterlagen nach einer gelben Papiermappe, die sie zu sich nimmt und aufschlägt, ehe sie ihre Brille zurechtrückt und mich ansieht.
„Dann sind Sie wohl…Mr. King, nehme ich an. Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen. Normalerweise würde es reichen, wenn Sie mit Mr. Grey sprechen würden – dem Schülersprecher. Aber Ihr Fall ist ein wenig…besonders. Setzen Sie sich doch.“ Sie bedeutet mir mit einer Handbewegung, mich auf den Stuhl zu setzen, der ihr gegenüber, auf meiner Seite des Schreibtischs, bereit steht.
Ich folge der Anweisung und höre weiter zu. „Nun, es ist so…Sie waren, laut Ihrer Akte, bereits auf sehr vielen Schulen. Sie scheinen weit herumgekommen zu sein und eigentlich haben Sie keine sehr schlechten Noten – Sie haben nur sehr oft gefehlt und fielen besonders dadurch auf, dass Sie sich offenbar schwer damit taten, sich an Regeln zu halten. Sie wurden als schwieriger Fall eingestuft – schwierig zu bändigen und mit einem schwerwiegenden Autoritätsproblem. Ich denke, es könnte einiges getan werden – hier steht auch, dass Sie bisher unter erschwerten Bedingungen, mit Ihrer Mutter gelebt haben...“ Mir gefällt der Tonfall nicht, mit dem sie den letzten Teil gesagt hat.
Ich kann nicht anders, als sie zu unterbrechen. „Entschuldigung, aber ich sehe nicht, was das hiermit zu tun hat“, sage ich, versuche dabei den entnervten Tonfall zu unterdrücken und schüttle leicht den Kopf.
Aber sie fährt einfach fort. „Nun leben Sie bei Ihrer Tante, in geordneten Verhältnissen – es hat sich also einiges geändert und es besteht die große Chance, dass sich das nun auf Ihr restliches Leben auswirken wird. Je nach dem, was Sie aus Ihrer Chance nun machen.“
„Welcher Chance?“
„Die Chance, die wir Ihnen hier bieten können natürlich. Auf Grund Ihrer Vergangenheit, wird es schwer werden, im Berufsleben später Fuß zu fassen. Natürlich nicht unmöglich – lediglich schwerer. Die Schule wird Ihnen daher die Möglichkeit bieten, dass wir Ihre Akte löschen, da ohnehin ein Großteil davon auf dem langen Weg verloren ging. Das alles wieder zusammenzusuchen, bei all den Schulen die Sie bisher besucht haben, würde eine ganze Weile Dauern und ich sehe es als unnötige Arbeit an, wenn ich ehrlich bin. Sehen Sie es als eine Art…zweite Chance an. Es liegt dann an Ihnen, ob Sie etwas daraus machen, oder ob Sie es weiterhin in den Sand setzen. Was sagen Sie dazu?“
Ich schließe kurz die Augen und seufze. „Und deshalb wollten Sie mit mir sprechen?“
Sie macht eine kleine Geste mit dem Kopf, wie ein angedeutetes Kopfschütteln. „Deshalb sind Sie hier.“
„Also gut…was, wenn ich Ja sage?“
„Das ist okay. Darum geht es hier. Wollen Sie es, oder nicht – Sie können eigentlich nicht verlieren. Selbst wenn Sie weiter machen, wie zuvor, haben Sie am Ende eine dünnere Akte als an Ihrer letzten Schule. Nur würde es Ihnen dann nicht so viel bringen.“
„Gut. Dann also, Ja. Kann ich nun gehen?“
Sie sieht wieder zu der Akte vor sich. „Da Ihre Akte nun mehr oder weniger vollständig ist, sollten Sie in den nächsten Tagen noch ein aktuelles Bild vorbei bringen. Sie sollten auch später noch bei unserem Schülersprecher, den ich vorhin erwähnt hatte, vorbei schauen – er wird Ihnen die notwendigen Unterlagen zukommen lassen, wie Stundenpläne, Schülerausweis und Schulbücher.“
„Also kann ich dann gehen?“, frage ich noch einmal.
Unhöflich sein, wollte ich eigentlich nicht. Aber ich bekomme Kopfschmerzen und ich weiß wirklich nicht, was ich von all dem halten soll.
Es klingt zu gut, um wahr zu sein.
„Ja. Das wäre dann alles – viel Spaß an Ihrem ersten Schultag, Adrian.“
„Danke.“ Ich kann nicht ändern, dass meine Stimme ein wenig Sarkastisch klingt, als ich das sage.
Dann kann ich endlich diesen Raum verlassen.
Ich will eigentlich nur noch an die frische Luft…
Aber das geht jetzt wohl nicht.
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