Nathaniel Paine
Und ich hasse es.
Mein Magen zieht sich schmerzvoll zusammen. Was tue ich jetzt? Naja, eigentlich sollte es ja klar sein.
Ich schicke ihn weg. Aber das ist viel einfacher gedacht, als tatsächlich getan.
Ich fühle mich so schutzlos. Hilflos.
Und das, obwohl ich immer noch hinter meinem massiven Schreibtisch stehe, der sich nun, de facto, genau zwischen uns befindet und so einen Abstand kreiert.
Dennoch macht es das nicht sehr viel besser.
Ohne es wirklich zu merken, wandert meine Hand zur Schreibtischplatte, auf der meine Brille liegt.
Ich nehme sie und setze sie auf – keine Ahnung wieso. Aber es fühlt sich an, als wäre es ein bisschen Schutz.
Eine kleine Barriere, die mich von ihm distanziert. Wie ein letztes Schild.
Und jeder Schutz ist besser als nichts.
„Hallo Nathaniel. Lange nicht gesehen.“
Ich habe einen Kloß im Hals, auch wenn ich nicht weiß, wo er herkommt.
Mein Mund öffnet sich – so, als würde ich etwas sagen wollen. Aber es kommt kein Ton heraus.
In meinem Kopf wiederholt sich jedoch eine Abfolge an Worten.
Eine Frage.
Eine Frage, die ich mir eigentlich schon stelle, seit dem Moment in dem ich seine schweren Schritte, aus meinen schlimmsten Alpträumen wiedererkannt habe. „Was willst du hier?“
Ich habe genuschelt, das weiß ich. Es war auch eher eine Feststellung meiner Gedanken, als eine Frage an ihn.
Dennoch ist es nicht weniger das, was ich gerade wirklich meine.
Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so emotionslos geklungen habe.
„Was?“, kommt es nur von ihm.
Ich schüttle kurz meinen Kopf, als würde das meine Gedanken klären.
Erstaunlicherweise funktioniert es tatsächlich. Zumindest ein wenig.
Wütend funkle ich ihn an, in dem Moment, in dem ich auch meine Stimme wiederfinde.
„Was willst du hier?“, sage ich noch einmal, diesmal aber mit einem stärkeren Unterton und mehr Nachdruck.
Die Frage war ganz offensichtlich feindselig, doch er zuckt nicht einmal mit der Wimper.
Typisch für ihn.
„Was sollte ich hier schon wollen? Ich darf doch wohl meinen eigenen Sohn besuchen, oder?“
Ja, klar. So siehst du auch aus… „Was willst du hier?“, wiederhole ich matt.
„Das habe ich doch bereits gesagt – bist du immer noch so schwer von Begriff? Und ich dachte schon, irgendwann würde mal etwas aus dir werden.“
Ich schließe kurz die Augen und atme einmal tief durch.
Dann sehe ich ihn wieder an. „Nachdem ich meinen Abschluss gemacht habe, bin ich von zu Hause weggegangen. Habe mir mein Leben selbst finanziert und mich durchgeschlagen; dennoch beste Leistungen in der Schule gebracht. Ich habe alles dafür getan, dass ich nun stehen kann, wo ich stehe. Verstehst du das?“, mache ich ihm, so ruhig ich kann, klar.
Aber er sieht mich nur verständnislos an. „Und weiter? Erzähl mir nicht dein Leben, dafür bin ich nicht hergekommen.“
„Genau darum geht es mir ja. Ich will einfach nur wissen, was du nun hier zu suchen hast. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich meinen Highschool Abschluss in der Tasche hatte und du hast dich auch nie für mich interessiert – warum also jetzt? Warum hier?“
Das ist wirklich der denkbar schlechteste Zeitpunkt – ich meine, nicht dass es irgendeine Zeit gäbe, oder je gegeben hätte, in der ich diesen Mann gerne hätte sehen wollen, aber gerade jetzt…
Mein Kopf springt noch mal im Dreieck, wenn das so weitergeht.
„Tu mal nicht so, als wärst du nun so arm dran. Du hättest auch zu Hause bleiben können – aber du wolltest ja lieber zu einem Straßenkind werden.“ „Nun mach mal halblang! Weder war ich je ein Straßenkind, noch bin ich eines, oder werde zu einem. Ich habe mir ein Leben aufgebaut – ein Leben, dass ich ‚Zuhause‘, wie du es so schön nennst, nie gehabt habe – und nun sag mir was du hier willst, oder verlasse bitte umgehend meine Praxis!“
Was mache ich hier eigentlich? Es ist meine Praxis. Ich kann ihn ganz einfach rauswerfen.
Und wieso erinnert mich diese Ganze Szene gefühlsmäßig an diesen Abend in der Gasse?
Und wieso kommt es mir so vor, als sei das hier tatsächlich schlimmer?!
Damals war wenigstens er da…
„Ich werde nicht gehen. Aber ich sage dir dennoch, wieso ich hier bin. Ein guter Geschäftspartner von mir, möchte einen Vertragsabschluss mit mir über die Bühne bringen – er wäre der Wichtigste Kunde, den ich je hatte.“, erzählt er und hört dann einfach auf, als wäre es nun offensichtlich, was er von mir will.
„Ja. Und weiter? Soll ich ihn therapieren, oder was?“, frage ich genervt.
„Nein – natürlich nicht.“, lenkt er ruhig ein.
„Was dann?!“ Er raubt mir noch den letzten Nerv!
„Nun, es ist so. Er hat verlauten lassen, dass er das Geschäft abschließen will – aber erst, wenn er sich sicher sein kann, dass er einen Nachfolger hat.“
„Einen Nachfolger?“, frage ich verwirrt. „Was hat das nun mit mir zu tun?“
„Bist du wirklich so schwer von Begriff? Er hat eine Tochter. Und diese Tochter ist in deinem Alter. Er hat von dir gehört und gefragt, ob wir beide nicht verwandt sind, da ich ihn auch schon von früher kenne und er wusste, dass ich auch einen Sohn und nicht nur eine Tochter habe. Seine Tochter ist von dir angetan – warum auch immer, aber irgendwas von mir und deiner Mutter muss schließlich hängen geblieben sein, also schätze ich es ist wohl nicht vollkommen unwahrscheinlich.“
Perplex höre ich seinem Gerede zu und meine verwirrten Hirnwindungen lassen nur eine langsame Zusammenführung all dieser neuen Informationen zu.
„…fragst du mich gerade ernsthaft, ob ich eine wildfremde Frau heirate?“
Mein Entsetzen muss einfach in meinem Gesicht abzulesen sein.
Und dennoch zeigt er weiterhin keinerlei Reaktion.
Das ist wie ein richtig schlechter Film.
Er gibt nur einen seltsamen, missbilligenden Laut von sich. „Quatsch. Erst mal sollst du dich mit ihr treffen – von Heiraten kann erst gesprochen werden, wenn sie sich von nahem auch noch für dich interessiert.“
Mein Mund ist wahrscheinlich gerade bis zum Fußboden aufgeklappt. „Sag mal…hast du sie noch alle?“, frage ich entgeistert.
Aber er sieht mich nur überrascht an. „Natürlich – und wer hat dir eigentlich erlaubt, so mit mir zu sprechen? Du warst ja schon immer frech, aber ich dachte, du wärst langsam mal ein wenig erwachsen geworden.“
Okay. Es reicht.
Ich hab die Schnauze voll. „Was?! Bist du noch ganz bei Trost? Ich interessiere mich nicht für irgendeine…eine Tussi – und von arrangierten Hochzeiten, halte ich schon gar nichts! Was soll das hier werden? Du kommst hier an, nach über sechs Jahren und willst, dass ich eine Frau heirate, die ich noch nie zuvor gesehen habe, damit du ein Geschäft mit ihrem Vater abwickeln kannst?! Das ist so…niveaulos. So selbstgerecht. Das ist einfach nur würdelos – selbst für dich.“
Den letzten Teil habe ich mehr herausgewürgt.
Meine Abscheu sollte für ihn unmissverständlich sein.
Aber es kümmert ihn immer noch nicht.
Das hat es ja nie.
„Tze, ein Bengel wie du, will mir etwas von Niveau und Würde erzählen?! Das ich nicht lache!“ Er wird laut. Aber das ist er früher auch immer geworden. Es macht mich dennoch nervös.
Früher hat er mich immer…nein! Ich bin kein Kind mehr!
„Hör zu: Ich bin kein Kind mehr, Vater! Ich bin nicht mehr sieben Jahre alt – du kannst mich nicht einfach irgendwo einsperren und so tun, als sei ich nicht da. Das ist meine Praxis – mein Büro. Ich habe einen Notfallknopf an meinem Schreibtisch und wenn du nicht bald mein Büro verlässt, dann werde ich mich nicht scheuen, ihn auch zu benutzen!“
„Und das soll ich dir glauben? Wofür braucht einer wie du denn einen Notfallknopf? Das hier ist doch keine Bank!“, schreit er mich an.
„Tja, das vielleicht nicht – aber das ist eine Psychologische Praxis. Ich hatte hier auch schon Patienten, die hin und wieder ausflippen könnten und wenn es einen Moment gegeben hätte, irgendwann, in dem ich sie nicht mehr unter Kontrolle gehabt hätte, dann hätte ich diesen Knopf betätigen können – denn wenn ich das tue, dann stehen innerhalb von wenigen Minuten ein Polizeiwagen und ein Wagen des Örtlichen Sanatoriums, direkt vor der Tür.“, kläre ich ihn auf und beobachte ihn ein bisschen.
Diese Erläuterung scheint ihn jetzt doch interessiert zu haben, was mir einen kleinen Moment der Genugtuung beschert, weswegen ich noch ein gehässiges „Seltsamerweise musste ich den Knopf bisher nicht betätigen – aber jetzt kommst du hier her und ich weihe ihn vielleicht ein. Ziemlich ironisch, dass selbst die verrücktesten meiner Patienten bisher noch nicht schlimmer waren, als du.“, hinzufüge.
Doch dann ändert sich sein Gesichtsausdruck. Er zeigt ein fieses Grinsen, das ich bisher nur ein paar Mal gesehen habe.
Dieses Grinsen, hat mir immer die meiste Angst eingejagt.
Er schreitet langsam um den Schreibtisch herum, was mich automatisch ein paar Schritte zurücktreten lässt. „Du traust dich das doch überhaupt nicht. Du bist schwach – und ängstlich. Das warst du schon immer.“
Seine harten Worte versetzen mir einen Stich.
An einer Stelle, an der schon längst taub zu sein glaubte. Aber da habe ich mich offenbar geirrt.
Ich will etwas sagen, aber die Angst ist schon wieder zurück.
Verdammt! Was ist hier nur los? Warum bin ich so schwach?!
Warum kann ich mich nicht gegen ihn behaupten?!
Er kommt einen weiteren Schritt auf mich zu und ich will ausweichen, doch in dem Moment, packt er mich auch schon am Arm.
So ein verdammter Mist!
Und all das, war möglicherweise auch sein Plan – denn von hier aus und aus dieser Position…komme ich weder an das Telefon, noch an den Notschalter.
Scheiße…
Er zieht an meinem Arm, um mich näher zu sich zu kriegen, doch ich stemme mich dagegen – versuche ihm meinen Arm zu entreißen.
Doch es klappt nicht.
Wenn ich doch bloß-
Ich werde jäh unterbrochen, als ein irrsinnig lauter Knall, der mir unheimlich bekannt vorkommt, von der Seite ertönt.
Ich sehe zum Ursprungsort des Geräusches, als mein Vater mich vor Schreck loslässt und glaube nicht, was ich sehe.
Noch ein Gast, der sich einfach selbst hereingelassen hat …
0 Reviews:
Kommentar veröffentlichen