Nathaniel Paine
Und mit dieser Vorahnung scheine ich auch gar nicht mal so falsch gelegen zu haben.
Ich habe ihm Zeit gegeben.
Ihn in Ruhe gelassen.
Meine Arbeit wieder aufgenommen, auch wenn ich etwas kürzer getreten bin – wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich in letzter Zeit nicht gewachsen, so vielen Menschen auf die Beine zu helfen, wenn ich selbst eigentlich keinen festen Stand mehr habe.
Aber mir geht es langsam besser.
Jedoch habe ich immer das Gefühl, dass ich Schuld daran bin, dass Castiel mir aus dem Weg geht.
Ach was…ich weiß, dass ich Schuld bin. Warum sollte er mir sonst aus dem Weg gehen?
Ich war zu neugierig.
Jetzt habe ich ihn damit verscheucht.
Nachdem er vor zwei Wochen, das letzte Mal meine Praxis verlassen hat, wurden seine Termine plötzlich reihenweise gestrichen. Er kam nicht mehr.
Ich habe ihn versucht anzurufen – als ich allein bei ihm war, habe ich auch seine Nummer in Erfahrung bringen können –, aber er geht einfach nicht ran.
Sogar besucht habe ich ihn bereits. Die Wachmänner haben mich wiedererkannt und wollten eine Ausnahme machen, dass ich kurz in seine Wohnung könne, da ich sagte, ich hätte etwas vergessen.
Das hat zumindest beim ersten Mal noch geklappt.
Eigentlich hasse ich es wie die Pest, andere anzulügen, aber es war für einen guten Zweck.
Allerdings habe war ich danach auch nicht viel schlauer als vorher.
Kein Zeichen, dass er da war.
Kein Zeichen, dass er die Tage zuvor da war.
Er schien gar nicht da gewesen zu sein.
Und selbst als ich vor vier Tagen wieder bei ihm war, war er nicht zu Hause. Diesmal konnte ich natürlich nur noch klingeln, aber sogar die Wachleute meinten, dass er bereits eine Weile nicht mehr gekommen war.
Sie führen eine Liste und sie scheinen ihn zu kennen – reden ab und zu mit ihm.
Jedenfalls haben sie meine Vermutung nur bestätigt. Ich kann einfach nicht glauben, dass er einfach weg ist.
Wohin ist er gegangen?
Ich kann mich kaum konzentrieren.
Kann nicht klar denken. Immer wenn meine Gedanken zu ihm abdriften, bekomme ich einfach nichts mehr gebacken.
Es ist wie ein Fluch.
Kann er nicht einfach hier herein kommen, mich belästigen und dann ist alles wie es war?
Offenbar nicht.
Das wäre wohl auch zu einfach.
Ich seufze laut – zum gefühlten eintausendsten Mal, allein heute Nachmittag.
„Doktor? Ist etwas nicht in Ordnung? Stimmt etwas nicht?“, fragt mich mein derzeitiger Patient besorgt.
Mr. Fledger. Er ist immer ein wenig nervös.
Und eigentlich mehr als nur ein wenig.
Jetzt reicht es wirklich – ich sollte mich auf meine Arbeit konzentrieren!
„Nein, Tim, alles in Ordnung. Es ist nur…ein privater Disput. Nichts Besorgnis erregendes.“, antworte ich ruhig und lächle ihn sanft an.
„Okay…“ Er klingt immer noch sehr nervös.
„Das heute war eine sehr gute Sitzung. Wir machen Fortschritte, finden Sie nicht auch, Tim?“
„Naja…es geht mir auf jeden Fall besser…seit ich hier bin…bei Ihnen, meine ich… Es ist besser geworden…glaube ich…“
„Das glaube ich auch.“, bestätige ich ihm. „Das sind doch gute Nachrichten. Jedenfalls reicht es erst einmal für heute. Ich hoffe, Sie halten sich auch zu Hause noch an das, was ich Ihnen geraten habe?“
„Ja…sicher…natürlich…“ Er steht ein wenig holprig auf und ich tue es ihm gleich – nur dass ich eben nicht so schwanke wie er.
Mit wenigen Schritten, trete ich auf ihn zu und reiche ihm meine Hand. „Wir sehen uns nächste Woche, Tim. Viel Erfolg bis dahin – ich freue mich auf Ihre Berichte über den weiteren Verlauf, was Ihre derzeitige Bewerbung angeht.“
„Danke. Alles klar…bis nächste Woche, Doktor…“
Ich begleite ihn noch bis zur Tür und öffne sie ihm. „Ein schönes Wochenende.“
Obwohl ich meinen Beruf gerne ausführe, ist es heute wirklich beruhigend, wenn ich auf die Uhr sehe und bemerke, dass ich es fast hinter mir habe.
Ich habe Kopfschmerzen.
Von all den Dingen, die mir im Kopf herum schwirren.
Ich habe gewartet. So lange.
Immer und immer wieder nach ihm gesehen. Immer gedacht, ihn zu sehen.
Mir Dinge eingebildet, weil ich sie sehen wollte.
Ich werde zu einer Glucke…
Ich mache mir Sorgen. Aber ich weiß doch, dass ihm nichts passieren würde.
Und er würde sich nichts antun. Niemals.
Mir bleibt lediglich, noch länger zu warten.
Bis er wieder kommt.
Das sage ich mir nun schon seit Tagen.
Aber er ist ein erwachsener Mann. Und ich habe ihn immerhin zuerst abgelehnt – und es nie anders klar gestellt.
Ich habe kein Recht darauf, ihn so zu beanspruchen.
Er ist mir keine Rechenschaft schuldig. Muss sich wohl kaum bei mir melden, wenn er irgendwohin verschwinden möchte.
Das ist leider die Wahrheit.
Daran kann auch niemand etwas ändern…
Ich sitze mittlerweile wieder an meinem Schreibtisch, mit meiner Lesebrille auf der Nase, die ich jetzt absetze, um meinen Nasenrücken zu massieren.
Ich habe wirklich Kopfschmerzen…
Dann geht plötzlich die Tür auf.
Ich komme nicht umhin, leicht zusammen zu zucken. Doch es ist nur Emily.
Moment…Emily?
Sie war bis heute gar nicht da. Ich wusste erst nicht, dass sie krank war, aber sie war es.
Mir ist aufgefallen, dass sie nicht gekommen ist, aber sie hat sich bei Melody krank gemeldet und nicht bei mir – jedoch ist das hier auch eigentlich normal und da sie auch die Sache mit ihrem Ersatz selbst geregelt hat, ist das alles legitim.
Es ist nur irgendwie seltsam, sie ausgerechnet jetzt wieder hier zu sehen.
Nach all dem, was ich vor zwei Wochen erfahren habe.
Dann räuspert sie sich. Ich war schon wieder in Gedanken versunken. „Dr.?“
„Ja?“
„Der Patient, der vor etwa drei Wochen angefangen hat, die Praxis zu besuchen, sollte heute kommen und hat sich auch diesmal nicht ausgetragen – aber er hat gerade angerufen und verlauten lassen, dass es sein könnte, dass er nicht kommt. Sie müssten nicht auf ihn warten, hat er gesagt.“
Mir bleibt für einen Augenblick das Herz stehen. „Was?“
„Na, der Patient. Damon. Er kommt heute vielleicht wieder, aber er sagte, dass es sein könne, dass er eben doch nicht kommt, also können Sie auch einfach nach Hause gehen.“
Dazu fällt mir einfach nichts ein.
Aber ich sollte mit ihr sprechen – vielleicht lenkt mich das geringfügig von meinem unsteten Herzschlag ab – das kann eigentlich nicht gesund sein...
Und auch von diesem ganzen Thema.
Von dem Thema, über das ich mir geschlagene zwei Wochen den Kopf zerbrochen habe.
Wo ist Castiel?
„Ach so...“, ist meine überaus intelligente Antwort.
Sie nickt nur und macht Anstalten, die Tür wieder zu schließen.
Gerade als meine Empfangsdame wieder den Raum verlassen will, halte ich sie noch einmal zurück. „Emily?“
„Ja, Doktor?“
„Ich weiß bescheid.“
Sie wirkt jedoch nur verdutzt, wegen dieser Feststellung. Sie scheint es nicht ganz zuordnen zu können. „Ich verstehe nicht…“, fängt sie verwirrt an, aber ich unterbreche sie.
„Die Sache mit Castiel Voltair - ich weiß davon.“
Erst scheint sie ein wenig erschrocken, fängt sich aber sofort wieder. „Oh…das heißt, Sie wollen mich jetzt feuern, nicht wahr?“, stellt sie trocken fest.
Jetzt bin ich an der Reihe, sie verdutzt anzusehen. Wie kommt sie darauf?
Okay, na gut, es ist nicht wirklich schwer darauf zu kommen, dass man sie deshalb vielleicht feuern könnte. Aber schätzt sie mich wirklich so ein?
Die Leute um mich herum, müssen ja ein grauenhaftes Bild von mir haben… „Nein…natürlich nicht. Ich wollte es eigentlich nur klar stellen. Sie müssen nicht mehr so tun, als würden Sie ihn nicht kennen – müssen auch keinen falschen Namen mehr benutzen. Es hat sich erledigt.“
Jetzt wirkt sie noch verwirrter, scheint das alles aber schnell wieder gefasst zu haben. „Also gut. Dann werde ich das in Zukunft berücksichtigen. Ich nehme also an, wenn er wirklich kommt, wollen Sie…ein wenig Privatsphäre?“, will sie wissen.
Na toll…was denkt sie denn von uns? …nein, ich will es gar nicht wissen. „Ähm…also, Sie können jetzt gehen, wenn Sie das meinen. Ich komme zu Recht.“
„Dann ist gut. Ich werde also Feierabend machen. Schönen Abend noch, Doktor.“, sagt sie, betont das ‚schönen Abend‘ auf eine sehr seltsame Weise und lächelt vielsagend.
Während mir die Kinnlade bis auf den Fußboden zu klappen scheint, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann.
Was weiß sie, das ich nicht weiß?
Und noch viel wichtiger: Seit wann kann dieses Mädchen lächeln?
Das war das erste Mal, dass ich das gesehen habe. Es war…befremdlich. Irgendwie.
Und erschreckend, falls sie wirklich etwas wissen sollte, das ich nicht weiß – aber eben wissen sollte.
Aber jetzt mache ich mir erst einmal Sorgen um das Hier und Jetzt, sonst explodiert mein Schädel.
Das hält man ja im Kopf nicht aus.
Ich sitze da. Wenige Minuten.
Dann höre ich die Haupttür der Praxis.
Emily? Vielleicht hat sie etwas vergessen.
Ich warte – dann höre ich Schritte. Schwere Schritte.
Nein, das kann nicht Emily sein.
Ich kann nichts dagegen tun, als sich ein Lächeln auf meine Züge schleicht.
Sonst würde niemand einfach so hier herein kommen – niemand, außer ihm vielleicht.
Sogleich erhebe ich mich aus meinem Schreibtischtuhl und sehe zur Bürotür.
Aber etwas ist komisch. Diese Schritte klingen schwer – wirklich schwer.
Da trampelt jemand wie ein Elefant. Und es kommt mir bekannt vor.
Aber Castiel trampelt nicht. Wenn er will, kann er sich sogar scheinbar vollkommen lautlos fortbewegen.
Das…ist nicht Castiel, glaube ich.
Irgendetwas sagt mir, dass er es einfach nicht ist.
Ich trete einen kleinen Schritt vom Schreibtisch zurück – soweit, wie es mir der Schreibtischstuhl, der immer noch hinter mir steht und die Wand direkt dahinter, es mir eben erlauben.
Aber das schlechte Gefühl in meiner Magengrube, kann das kein bisschen beruhigen.
Dann geht die Tür erneut auf. Nur diesmal, erschrecke ich nicht, weil ich es nicht habe kommen sehen – sondern eben genau deshalb.
Und dann sehe ich ihn.
Den Mann, den ich eigentlich nie wieder sehen wollte.
Nie wieder.
„Was willst du hier?“ In meiner Stimme ist meine Abneigung deutlich hörbar.
Ich scheine in letzter Zeit sehr oft Besuch von den Geistern meiner Vergangenheit zu bekommen.
Ständig kommen unerwartete Gäste vorbei – einige ungebetener als andere.
Wenn ich nur wüsste, was er von mir will.
Nach all der Zeit…
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