Oh mein Gott…wieso habe ich es nur gesagt?
Wieso habe ich zugestimmt? All dem hier… Diesem Irrsinn!
Und dann will ich das alles auch noch allein machen. Nur
weil sich meine alte Betreuerin des Jugendamtes für mich eingesetzt hat, werde
ich das heute allein durchstehen müssen.
Aber das war es auch, was ich unbedingt wollte. Ich werde
allein reisen.
Was für eine dumme, dumme Idee.
Aber vielleicht ist es doch gar nicht so dumm…keine
Ahnung.
Ich stehe jetzt jedenfalls an einem meiner Lieblingsorte.
Allein. Meine Familie wartet draußen, um mich zum Flughafen zu fahren.
Doch dieses Mitglied der Familie – das einzige Wesen, das
ich mit ihnen gleichsetzen kann –, wird wohl kaum mitkommen können.
Er ist sozusagen mein Haustier. Doch ich werde ihn nicht
in einer Transportbox führen können.
Auch wird ein Körbchen im Haus nicht reichen.
Denn das ist kein kleines Kätzchen… Es ist ein Jaguar.
Und ich weiß, was die meisten Leute denken würden – es
ist ein Zirkus, also gibt es hier Tiere, nicht wahr?
Aber das stimmt nicht.
Jean ist zwar auch oft in der Manege, aber er wird nicht
gepeitscht, oder so etwas.
Wir sind Tierfreunde – Schützer. Wir arbeiten nur mit
Menschen – auch wenn ich nicht wirklich gut mit ihnen umgehen kann.
Als ich klein war, waren wir irgendwann in einem der
vielen Länder, die wir in den letzten elf Jahren bereist hatten. Ich weiß nicht
mehr wie – und ich weiß auch nicht wieso.
Aber ein Typ kam auf uns zu. Bot uns Jean an. Er sah so
traurig aus.
Verletzt. Allein.
Gebrochen.
Die Mutter getötet. Von Wilderern.
Es hat mir das Herz gebrochen.
Ich komme nicht mit Menschen klar. Aber Tiere?
Tiere mag ich. Jean war damals ein zerbrechliches Baby –
heute ist er ein König.
Im Grunde gehört er mir, aber als ich klein war, habe ich
mich natürlich nicht allein um ihn kümmern können. Oksana hat es getan.
Ich sehe ihn an, wie er da sitzt. Total ruhig. Sich nicht
bewegt – anders als sonst.
Er legt seinen Kopf nieder und sieht mich an.
Ob er weiß, dass das hier ein Abschied wird? Wohl eher
nicht.
Ich lehne mich nach vorn und streichle ihn sanft.
Wenn Dimitri das tut, faucht er ihn immer an. Mein
Brüderchen versteift sich dann für gewöhnlich und sagt, er habe ‚Wichtiges zu
tun‘.
Dabei sucht er lediglich das Weite.
Als Jean noch ganz klein war, da fragte ich mich, ob er
überleben wird.
Und wenn, wie würde er damit umgehen? Würde er traurig
bleiben?
Doch er wuchs. Er wurde gesund. Wieder lebensfroh.
Da fragte ich mich, ob er mich fressen würde, wenn er
groß genug dazu war.
Und auch das traf nicht ein, was aber offensichtlich sein
sollte.
Jetzt frage ich mich nur noch…war ich es wirklich, die
ihn verstand und tröstete…
Oder war in Wahrheit er
es, der mich verstand und belehrte?
Es ist mir nicht klar. Wie so vieles andere auch.
Mit einem Seufzen richte ich mich wieder auf, nehme die
letzte Tasche, die zu meinen Füßen liegt und verlasse das Zelt. Ohne ein Wort
des Abschieds.
Ich hasse Abschiede.
Zum Glück ging alles Weitere so schnell, dass meine
Familie kaum hinterherkam.
Sie brachten mich an den Flughafen – doch die Uhrzeit war
falsch. Der Flug ging eher.
Für einen Abschied war keine Zeit.
Und es war meine Schuld. Es war Absicht.
Ich hasse
Abschiede.
Ein Psychiater meinte einmal, meine extreme Abneigung
käme daher, dass meine Mutter sich nicht verabschiedet hatte. Aber er sagte
auch, dass man dann eigentlich eher nach einem Abschied sucht.
Das man nicht allein gelassen werden will – ohne die
Worte des Abschieds.
Doch das ist nicht das einzige, das bei mir anders war,
als man es denken würde.
Das Thema ‚Höhe‘, sieht ungefähr genauso aus. Ich habe
keine Angst.
Nein, im Gegenteil. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich sitze also im Flugzeug – sehe aus dem kleinen Fenster
neben mir.
Es ist kein Flug nach Frankreich. Sondern einer nach
England – London, um genau zu sein.
Irgendetwas blockiert den Luftraum über Frankreich und
die Flughäfen streiken. Das ist alles, was ich verstanden habe.
Es war seltsam. Aber es führte jedenfalls dazu, dass ich
nun in einem Direktflug von Athen nach London sitze, der fast vier Stunden
dauert.
Ich setze meine abgenutzten Kopfhörer auf, die an meinem
MP3 Player befestigt sind und blende so die Geräusche aus, die um mich herum
immer lauter werden.
Na bravo…
Ich hasse es. Aber es ist endlich vorbei – zumindest
beinahe.
Nach endlosen Stunden, bin ich endlich da.
Drei Stunden und 56 Minuten Flugzeit nach London.
Eine Stunde und 43 Minuten Taxifahrt, bis nach Dover,
Delaware.
Weiter über eine Fähre – weitere zwei Stunden – bis zur
Hafenstadt Calais.
Calais. Hier lebt meine Tante...ich weiß nicht, ob ich
nun aufgeregt sein sollte, oder nicht.
Ich denke aber schon.
Als ich den ersten Schritt an Land setze, fühle ich mich
fast heimisch. Hier waren wir sehr lange – mit dem Zirkus.
Und ich war immerhin elf Jahre lang unter Franzosen –
auch wenn Oksana eigentlich gebürtige Russin ist.
Kaum bin ich ein paar Meter gelaufen, winke ich ein Taxi
heran.
Ich weiß, niemand kommt mich abholen. Eigentlich hätte
das Jugendamt es geregelt, aber ich wollte nicht. Ich sagte, ich würde es
allein tun.
Sonst würde ich mich weigern, soweit es meine Kraft
hergibt.
Ms. Parsons hat sich dann für mich stark gemacht –
gesagt, was für ein braves und kluges Mädchen ich doch sei und dass ich allein
gehen möge, wenn ich das wirklich wollen würde.
Leider habe ich mich falsch entschieden. Es war die
Hölle.
Aber wäre es anders denn besser gewesen? Und ich muss
wohl gestehen…als ich diesen Wunsch geäußert hatte, dachte ich wohl eine
Sekunde daran, einfach wegzulaufen.
Aber würde das wirklich Sinn machen?
Ich denke nicht. Rückblickend, hat nie etwas einen Sinn
gemacht.
Nie.
Als endlich ein Taxi vor mir zum stehen kommt und ein
Mann aussteigt, zucke ich kurz zusammen.
Ich sollte nicht immer in Gedanken versinken, wenn ich
gerade keine Zeit dafür habe.
Schnell beanspruche ich das Gefährt, indem ich einsteige
und die Tür schließe.
Der Fahrer – ein etwas ungepflegter, indisch wirkender Mann
– dreht sich zu mir herum. „Na Kleine, allein unterwegs? Wo soll’s denn
hingehen?“, fragt er mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, das ich nicht
erwidern kann.
Ich würde gern. Sehr gern sogar – wirklich. Aber ich kann
nicht.
Ich bin angespannt. Wieso kann es nicht aufhören?
Es ist doch immer dasselbe.
Mit einer eiligen Bewegung, ziehe ich etwas aus meiner
Manteltasche, das nun schon den ganzen Tag dort verstaut ist. Ich reiche ihm
den kleinen weißen Zettel und er nimmt ihn wortlos entgegen.
„Alles klar…“, höre ich ihn sagen, als er scheinbar
gelesen hat, was darauf geschrieben steht.
47 Rue Mollien,
62100 Calais, Frankreich.
Die Adresse meiner Tante – Agatha Kingsley.
Am Telefon klang sie sehr nett. Wirklich nett.
Wie jemand, den man mögen könnte.
Und sie hat mich auch nicht allein gelassen, weil sie es
gewollt hätte.
Sie wusste es nicht besser – niemand hat sie
benachrichtigt. Sie hat in England gelebt – mit ihrem letzten Ehemann.
Und der Tod einer Frau wie meiner Mutter – einer
einfachen Schriftstellerin, die über Historische Ereignisse geschrieben hat –
landet nicht gerade in der Times. Ich
bin nicht so naiv.
Es war wirklich nicht ihre Schuld.
Ich sehe aus dem Fenster, als ich merke, wie der
Taxifahrer mir von vorn, über den Rückspiegel, seltsame Blicke zuwirft.
Es fängt an zu regnen. Die Tropfen werden dicker;
schwerer…
Sie fließen die Scheibe hinab und ich beginne, ihnen
einem nach dem anderen zu folgen.
Tropen für Tropfen. Wie Tränen.
Aber es gibt nichts über das geweint werden müsste.
Denn es bringt nichts, über vergossene Milch zu weinen.
Meine Mutter hat das immer gesagt – und Oksana sagte, sie habe recht damit.
Wenn ich so darüber nachdenke… Agatha tut mir irgendwie
Leid.
Sie kam zurück…nach langer Zeit. Und was fand sie vor?
Ein leeres Haus. Überall nur leere Erinnerungen.
Ich kann mich nicht an sie erinnern. Viel wurde mir nicht
gesagt. Nur die kryptische Angabe, sie sei die ältere Schwester meiner Mutter –
nicht einmal ein Bild kenne ich von ihr.
Aber die Stimme…sie klingt ihr ähnlich. Sogar sehr.
Aber sie ist doch anders – jedoch nicht schlecht. Warm
und freundlich. Aufmunternd.
Positiv.
Nicht so, wie meine Mutter damals.
Zumindest war sie nicht immer so.
Aber das ist nun alles egal. Es liegt in der
Vergangenheit und mir bleibt nichts andere übrig, als in die Zukunft zu
blicken.
Wie sagte Einstein noch gleich?
‚Mehr als die
Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.‘
Und so wird es auch sein. Denn egal was ich denke und
tue, es wird immer ein Morgen geben.
Mit diesem Gedanken im Kopf nehme ich war, wie der Mann
den Wagen vor einem Haus anhält.
Es sieht schön aus – auch im Regen. Der Garten ist
besonders schön; überall blühen Rosen.
„Ist es das?“, frage ich leise. Meine Stimme ist kratzig.
Angeschlagen, weil sie so lange nicht genutzt wurde.
„Das Haus? Ja, das ist es. Die Adresse die auf dem Zettel stand.“ Dann grinst er –
ich sehe es wieder im Rückspiegel. „Und ich dachte schon, du könntest gar nicht
reden, Kleine!“
Soll ich darauf antworten?
Ich weiß nicht. Wieso muss ich überhaupt darüber
nachdenken?
Er ist nett.
Gerade als ich Luft hole, um ihm eine Antwort zu geben,
höre etwas von der Seite, was meine Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich
zieht und mich zur Seite, aus dem Fenster blicken lässt.
Ich weiß nicht wieso, doch mein Herz macht einen Sprung,
noch ehe ich mich wirklich umgedreht habe.
Als ich etwas näher hinsehe, bleibt es jedoch stehen und
meine Augen weiten sich.
Denn ich sehe sie
auf das Taxi zukommen… Meine Mutter.
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