Adrian King
Also, wo sollte ich noch gleich hin…in die Schülervertretung?
Das heißt, einfach einen Raum weiter.
Wieder klopfe ich an die Tür.
Nichts.
Ich klopfe erneut.
Wieder nichts.
Diesmal scheint wirklich niemand da zu sein.
Trotz allem öffne ich langsam die Tür und sehe hinein.
„Hallo-Hallo? Jemand zu Hause?“, rufe ich fragend in den Raum hinein.
Scheint nicht so, aber das war ja ohnehin klar.
In dem Raum steht nur ein Schreibtisch und an der Wand sind einige schmale Metallschränke aufgereiht. Überall liegen Akten und die Schränke quellen halb über.
Hier liegt all das, was im Rektorat scheinbar gefehlt hat – ich dachte mir jedenfalls die ganze Zeit, dass irgendwas gefehlt hat, aber es war irgendwie so nebensächlich.
Also gut, wenn dieser Grey hier nicht ist, dann kann ich ja meine Klasse suchen…wenn ich überhaupt wüsste, in welche ich denn genau gehe.
Ich meine, haben die hier Parallelklassen?
Und in welchen Raum muss ich?
Welches Fach? Welcher Lehrer?
Na toll.
Ich fahre plötzlich herum, als ich etwas an meiner Schulter spüre. „Kann ich dir helfen?“
Es war eine Hand. Und zu dieser Hand, gehört ein ordentlich gekleideter Junge.
Der Blonde vor mir, lächelt perfekt – abgesehen von diesem kurzen Moment, in dem er mein Gesicht das erste Mal richtig gesehen hat. Da sah er kurz erschrocken und leicht irritiert aus, hat sich aber sofort wieder gefangen.
Ich mustere ihn einen Moment.
Ein Hemd. Eine Krawatte. Eine viel zu steife, unbequem wirkende Hose.
Ein Klemmbrett…er ist mit Sicherheit der Schülersprecher, zumal er der einzige Schüler zu sein scheint, der noch immer über die Flure spaziert – abgesehen von mir.
Ein kleiner Streber wahrscheinlich. Jedenfalls sehr…diszipliniert.
Perfekt Etwas, das ich hier schon oft gesehen habe. Zu oft.
„Also?“, fragt er und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und sehe ihn verwirrt an. „Was?“
„Na, kann ich dir irgendwie helfen?“, widerholt er scheinbar seine Frage, die ich vorher so gekonnt ignoriert habe. „Immerhin stehst du hier im Schülervertretungsraum – und ich habe dich hier noch nie gesehen. Ein Gesicht wie deines…nun ja, sagen wir einfach, ich würde dich wiedererkennen.“
Stimmt. Und das war sicher keine Beleidigung – ich habe schon viel Schlimmeres gehört.
Es war eher eine einfache Umschreibung davon, was mein Gesicht nun einmal ist.
Einprägsam.
„Ja, ich bin auch neu – mehr oder weniger. Ich gehe ab heute hier zur Schule. Die Direktorin hat mich hergeschickt – wegen Unterlagen und Büchern“, kläre ich ihn knapp auf.
Das bringt ihn wieder ein bisschen mehr zum Lächeln. Ein ziemlich einfacher Zeitgenosse, hm?
„Dann komm mal mit – ich kann dir alles geben. Es sollte alles bereitliegen. Eigentlich hieß es, du kommst erst morgen, daher war ich so überrascht. Aber bei uns kommt es manchmal vor, dass die Organisation ein wenig…hinkt. Naja, erledigen wir das jedenfalls.“
„Klar…“, ist alles was ich erwidere, ehe wir zusammen in den Raum gehen und er mich mit meinen Materialien versorgt.
Schon ein Blick auf den Stundenplan sagt mir, dass ich heute sehr genervt sein werde.
Viele verschiedene Fächer.
Keine ordentlichen AGs – nicht, dass ich tatsächlich die Lust hätte, eine zu besuchen, aber Agatha möchte das.
Damit ich mich besser ‘integriere’, meint die. Ich müsse mich hier ja einleben.
Wenn es nach ihr ginge, hätte ich am Ende dieser Woche schon zwanzig neue Freunde gefunden, aber so einfach ist das leider nicht.
Nicht bei mir zumindest.
Ich sehe noch einmal auf den Plan um meine Klasse und die erste Stunde für heute zu erfahren.
Also gut. „Sag mal…wo ist Raum 211?“, frage ich das Streberleinchen vor mir.
„Ähm, das ist oben. Die Räume hier sind eigentlich einfach zu finden, wenn man das Prinzip kennt“, meint er schnell und lächelt wieder.
Soll ich mich daran gewöhnen, immer angestrahlt zu werden? Ich weiß nicht…ich fühl mich hier irgendwie wie beim Zahnarzt…nicht, dass ich in letzter Zeit mal wieder war.
Was ich aber vielleicht mal tun sollte…egal, zurück zum Thema.
„Aha und wie lautet das Prinzip?“, frage ich also.
„Naja, wir haben hier genau ein Ober-, Erd- und Untergeschoss. Das Untergeschoss schließt die Kellerräume, wie den Heizungskeller, den normalen Keller, die Abstellräume und die etwas größeren Lagerräume ein. Im Erdgeschoss befinden wir uns gerade und dann gibt es noch eines über uns. Alle Räume im Keller, beginnen mit der Zahl ‘0’. Die Räume in diesem Stockwerk mit der Zahl ‘1’ und ein Stockwerk über uns, beginnen die Zahlen mit der Zahl ‘2’. Danach musst du einfach abzählen. Du weißt also, der Raum 211 ist eins weiter oben, also gehst du ins Treppenhaus, dann ein Stockwerk nach oben und läufst den Gang entlang, bis du beim elften Raum ankommst. Verstehst du?“
Okay, das war eine ausführliche Antwort.
„Klar. Verstehe ich – bin ja nicht auf den Kopf gefallen…“, nuschle ich in meinen nicht vorhandenen Bart.
Dieser Kommentar scheint ihn zum Lachen zu bringen, da das kurze Lachen das ich eben gehört habe, echter klang als alles andere bisher ausgesehen hat. „Tut mir leid, so sollte es nicht rüberkommen. Ich wollte es nur nicht doppelt und dreifach erklären müssen – es gibt nämlich durchaus viele Leute hier, die nicht gerne zuhören und du hast mich irgendwie an jemanden erinnert, der das ganz besonders gut draufhat, daher war es wohl Gewohnheit.“
„Nein, schon klar. Du machst ja nur deinen Job und so…ich geh dann mal. Also...“, will ich mich bereits verabschieden, doch er hält mich an der Schulter zurück.
Ich hasse das. Ich hasse das einfach.
Von hinten angepackt zu werden.
Aber ich halte das Knurren zurück, das bereits seinen Weg über meine Kehle finden will – er kann ja nichts dafür und ich denke nicht, dass das nun irgendwie provozierend gemeint war. Denn das wäre unlogisch, da er mich nicht kennt.
Ich atme also einmal tief durch und drehe mich um, nur um von einem warmen Lächeln begrüßt zu werden.
Ich krieg echt noch die Krise, mit dieser Sonnenblume.
„Ja, Sonnenscheinchen?“, frage ich sarkastisch, weil ich einfach nichts dagegen tun kann.
Daraufhin sieht er mich nur perplex an und wirkt verwirrt. „Was?“
„Nichts…“, ist alles, was ich dazu sage und es scheint ihn nicht ganz zu überzeugen – viel dazu sagen, will er aber offenbar auch nicht.
„Oh…kay… Also, ich wollte dir nur sagen, dass wir in dieselbe Klasse gehen, also können wir auch zusammen…wenn du möchtest, meine ich…“, fragt er unsicher und will sich bereits abwenden.
Ich sehe ihn nur an. Am liebsten würde ich allein gehen, aber wenn ich mich von den anderen abgrenze, macht das auch nichts besser.
Und er wirkt schon irgendwie freundlich, also immerhin.
„Ist mir egal“, entgegne ich schlicht.
Und dann gingen wir tatsächlich zusammen…bis er eine SMS bekommen hat, in der eine Freundin von ihm offenbar meinte, dass die erste Stunde kurzfristig ausgefallen war.
Und da er nicht mehr im Büro war, hat er es nicht mehr erfahren. Also eine Freistunde.
Eine Schulstunde, in der ich hier einfach nur herumgammeln werde. Aber ich will mich nicht beschweren.
Immerhin zögert es diesen Moment heraus.
Den Moment, der unvermeidlich ist – der Moment, in dem ich zu meiner neuen Klasse stoßen werde.
Ich sollte es wirklich langsam gewohnt sein, aber ich habe dennoch keine Lust darauf.
All die neuen Leute.
All die Fragen.
All die Lügen.
Ich habe es satt – aber ich kann es nicht ändern.
Naja, bisher war ich eigentlich immer nur an Schulen, mit Menschen wie mir. Das hier…ist eine ganz andere Welt.
Die meisten Schulen, bis auf ein oder zwei, waren ziemlich heruntergekommen und auf einer solch Feinen, war ich bisher noch nie – und ich glaube, es ist eigentlich eine ganz normale.
Aber ich denke dennoch nicht, dass es viel anders werden wird – im Gegenteil. Wahrscheinlich ist, dass ich hier noch mehr anecke, als ich es ohnehin schon überall tue.
Der Schülersprecher muss also wieder zurück – verspricht aber, mich am oberen Treppenabsatz aufzulesen, wenn er fertig ist, alle Schüler über die erste Stunde zu informieren. Es wird bereits zu spät sein, aber er muss es tun, meint er.
Ich habe jedoch nicht die Absicht, hier die ganze Zeit herumzustehen wie eine Wachsfigur.
Also laufe ich den Gang entlang.
Ich gehe weiter und weiter.
Bis ich plötzlich an einer kleinen Treppe ankomme. Gab es hier nicht nur dieses eine Obergeschoss?
Das hat mir der kleine blonde Sonnenschein doch vorhin erklärt, oder nicht?
Tja, mal sehen, was es da so gibt…
Als ich die kleine Treppenflucht erklommen habe, stehe ich vor einer Tür.
Offenbar ist das tatsächlich kein Stockwerk – nein, es ist das Dach.
Daneben steht nämlich eine Warnung. Die Türen sind auch eigentlich verschlossen, ich denke, das ist so Vorschrift, auch wenn die meisten meiner alten Schulen sich nicht daran gehalten haben – die haben sich an Einiges nicht gehalten.
Auf gut Glück, lege ich meine Hand an den Griff und drücke ihn herunter – und staune nicht schlecht, als sie sich tatsächlich öffnen lässt.
Aber im Ernst, ich will nichts sagen – immerhin ist es ja nicht zu meinem Nachteil.
Als ich dann so dort stehe, denke ich nach – wie ich es immer tue, wenn ich auf einem Dach stehe. Sie sind meine Lieblingsorte und die Einzigen bisher, an denen ich mich entspannen konnte.
Ich mag hohe Orte.
Also trete ich weiter heraus und schließe die Tür hinter mir um an den Rand zu gehen.
Der Tag hat gerade angefangen und das Schlimmste habe ich noch vorher – und doch, würde ich am liebsten einfach wieder verschwinden.
Meine Hände vor mir auf dem Stein liegend, überblicke ich die kleine Stadt und atme einmal tief durch.
Ich frage mich, wie lange ich noch so leben kann.
Ich sehe nach unten und stelle mich einfach auf die Mauer, die das Dach umfasst.
Der Blick nach unten lässt mich wanken.
Es fühlt sich seltsam an.
Dieser Blick von oben…
Alles wirkt klein. Unbedeutend.
Und wenn man genauer darüber nachdenkt; wenn man wirklich einen Gedanken daran verschwendet, dann merkt man, dass es auch genau das ist.
Ich lasse mich ein wenig nach vorn fallen – nur um zu wissen, wie es sich anfühlt.
Wie es sich anfühlt, wenn man nur für einen Moment die Angst spürt, hinunterzufallen in die Tiefe.
In diesem einen Moment, wird eine unglaubliche Menge an Adrenalin durch meine Adern gepumpt, die mich lebendig fühlen lässt – etwas, dass schon lange nicht mehr der Fall war.
Ich lehne mich sofort wieder zurück und stolpere rückwärts von der Mauer, woraufhin ich wackelig wieder auf den Beinen lande.
Ich atme ein. Aus.
Wieder ein. Und wieder aus.
Mein Kopf fühlt sich leicht an.
Ich fühle mich als würde ich schweben. Ohne festen Stand auf dem Boden.
Ohne wirklichen halt.
Aber ohne auch nur ein Stück voran zu kommen.
Also eigentlich wie immer.
Ich denke über den vergangenen Tag und die Zeit davor nach.
Wieso bin ich überhaupt hier?
Was tue ich hier eigentlich?
An der Mauer, neben der Tür zum Treppenhaus, lehne ich mich an und rutsche daran nach unten, bis ich sitze.
Oh man…
Ich hasse mein Leben.
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