„Siehst du das, mein Täubchen?“
Meine Mutter hält mich an der Hand und zieht mich weiter
an den Rand des Daches.
Es ist hoch. Sehr hoch. Die vielen Leute auf der
Straße…sehen aus wie die Ameisen, unten auf der Wiese, wie sie zwischen den
Gräsern herumkrabbeln.
Ich kann nicht wegsehen…
„Mami…warum sind wir schon wieder hier?“
Sie sieht mich an und streichelt mir lächelnd über die
Wange. Sie sieht glücklich aus…
„Weil ich dir etwas zeigen will.“, sagt sie, hebt ihre
Hand von meinem Gesicht und macht eine Bewegung in die Ferne. „All das.“
„Aber wir kommen doch immer hier her…“
„Ich will nur, dass du etwas lernst. Du bist ein solch
intelligentes Kind, du wirst es verstehen.“
„Was denn?“, frage ich neugierig.
„Ich will, dass du lernst, dass du keine Angst haben
musst.“
„Vor was denn?“
„Vor all dem hier. All dem, was dir das hier bieten
kann.“ Sie lässt meine Hand los und tritt einen weiteren Schritt auf den Rand
zu. „Vor der Freiheit. Der Höhe. Dem Fall. Dem Fliegen…hab keine Angst vor dem Fliegen, mein Vögelchen.“, meint
sie.
Manchmal macht sie mir Angst. Dann stellt sie sich jedes
Mal an den Rand und lehnt sich nach vorne.
„Das sagst du auch immer…das fliegen, Freiheit bedeutet…“
„Weil es stimmt. Und ich will, dass du das lernst. Egal
was passiert…ganz egal was du tust. Die Höhe ist dein Freund. Denn Höhe
bedeutet Distanz. Das Fallen ist dein Freund, denn fallen ist fliegen…und
fliegen ist Freiheit.“
„Aber ich versteh das nicht, Mama…“
„Hör auf zu quengeln. Du wirst es noch verstehen.“ Sie
atmet ganz tief ein, bevor sie wieder zu mir sieht und sich dann zu mir
herunter beugt. „Also, Wilma Jane Piper, was bedeutet es, zu fliegen?“
Ich überlege kurz. „Frei sein?“, frage ich sie.
Ich überlege kurz. „Frei sein?“, frage ich sie.
„Genau.“ Sie tätschelt meinen Kopf und nickt. „Es
bedeutet frei sein. Und was bedeutet es, zu schweben?“
Wieder überlege ich. Doch ich kenne die Antwort nicht.
„Ich weiß es nicht…“
„Es heißt, du bist gefangen. Du bist da, wo dich der Wind
hintreibt; bestimmst deinen Weg nicht selbst. Du tust nur das, was andere dir
vorgeben, zu tun. Fliegen ist schwerer als einfach zu schweben, aber manchmal
sind die einfachen Wege nicht die Richtigen – oft muss man den schwereren Weg
wählen. Verstehst du mich?“
„Ich glaube schon.“
„Gut so, meine Kleine. Und was glaubst du, will ich dir
damit sagen?“
„Keine Ahnung.“
Kurz lacht sie auf und stellt sich dann wieder gerade
hin. „Ganz einfach: Fang an zu fliegen und hör auf zu schweben. Das ist das,
was ich mir für dich wünsche, wenn du einmal groß bist, Vögelchen.“ Erklärt
sie, als sie auf die Erhöhung am Rand des Daches steigt, mit dem Gesicht zu mir
gedreht.
„Lerne zu fliegen…“
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